Gray-asexuell, asexuell oder sexuell?

„Bin ich asexuell“? – diese Frage stellen sich Menschen, die bei sich keine oder eine nur geringe sexuelle Ansprechbarkeit feststellen. Aber ab welcher Stärke des sexuellen Verlangens ist jemand sexuell oder asexuell? Die Unsicherheit vieler Menschen zeigt, dass es eine einfache Antwort nicht gibt. Offenbar ist menschliches sexuelles Erleben und Verhalten komplexer als eine einfache Zweiteilung asexuell – sexuell. Diesen Sachverhalt greift das Konzept „Gray-Asexualität“ (Gray A, Grau-Asexualität) auf, wodurch mit gray-asexuell eine Zwischenstufe zwischen asexuell und sexuell geschaffen wird. Das Konzept wird in diesem Artikel diskutiert und es wird dargestellt, wie gray-asexuell über unseren Selbsttest „bin ich asexuell?“ mittlerweile erfasst wird.

Unsicherheit: Asexuell oder sexuell?

In unserer laufenden Asexualitäts-Umfrage haben bisher 109 teilgenommen, die sich als asexuell bezeichnen. Von diesen gaben aber nur 22,43% an, „vollkommen sicher“ zu sein, dass sie asexuell seien. 34,58% gaben an, sich über ihre Asexualität „sicher“ zu sein. „Eher sicher“ waren sich 17,76%. Eher unsicher waren sich demgegenüber 16,82%. Unsicher waren 3,74% und gänzlich unsicher waren 4,67%.

Immerhin ein Viertel aller sich als asexuell bezeichnenden Teilnehmenden formulierte also deutliche bis starke Zweifel an der eigenen Zuordnung. Werden die sich „eher sicheren“ hinzugenommen, steigt der Anteil der Unsicheren auf fast 38%. Gänzlich sicher, asexuell zu sein, ist sich schließlich lediglich gut jede(r) Fünfte der Befragten.

Eine deutliche Unsicherheit bei der eigenen Zuordnung als asexuell oder nicht asexuell zeigt sich ebenfalls bei unserem Test „Bin ich asexuell?“:

Nach aktuellem Stand (25.07.2016) haben nur 5 Menschen, die diesen Test vollständig ausgefüllten, die Frage nach einer möglichen Asexualität mit „Ja, auf jeden Fall“ beantwortet. 22 Personen gaben demgegenüber „Ja“ an und 56 Personen entschieden sich für die Antwort „Ja, eher“.

Auch die Verneinung von Asexualität ist offenbar nicht so einfach:

23 Personen antworteten mit „Nein, auf keinen Fall“, 43 antworteten mit „Nein“ und 75 antworteten mit „eher nein“.

Dies bedeutet, dass in dem Test fast 59% der Befragten bisher eine Antwort wählten, die durch das „eher“ eine deutliche Unsicherheit bezüglich einer möglichen eigenen Asexualität impliziert.

Es ist also offenbar eine durchaus komplexe und schwierige Frage, ob ein Mensch asexuell ist oder nicht. Jedenfalls fällt die Antwort darauf den Menschen selbst nicht immer leicht. Das Konzept Gray-Asexualität impliziert, dass ein wesentlicher Grund hierfür sein mag, dass Menschen tatsächlich nicht im eigentlichen Sinne asexuell sind, aber dennoch in einem Spektrum der Gray-Asexualität liegen, welches sie von „typischen Sexuellen“ unterscheidet.

Wirklichkeit ist komplizierter

Asexuell wird oft dem Begriff sexuell gegenübergestellt. Demnach wäre ein Mensch also asexuell oder sexuell, niemals aber beides zur gleichen Zeit. Ungeachtet dessen mögen Menschen aber zu verschiedenen Zeitpunkten phasenweise asexuell oder phasenweise sexuell sein.

Die Schwierigkeiten von Menschen, sich eindeutig als asexuell oder sexuell zu bezeichnen, deutet aber an, dass dieses einfache Modell der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Der Begriff Gray-Asexualität wurde als Lösung für diese Problematik eingeführt.

Im Wiki von Asexuality.org wird Gray-Asexualität folgendermaßen definiert:

Asexuality and sexuality are not black and white; some people identify in the gray (spelled „grey“ in some countries) area between them. People who identify as gray-A can include, but are not limited to those who:

  •  do not normally experience sexual attraction, but do experience it sometimes
  • experience sexual attraction, but a low sex drive
  • experience sexual attraction and drive, but not strongly enough to want to act on them
  • people who can enjoy and desire sex, but only under very limited and specific circumstances

Demnach gibt es Übergangs- und Zwischenformen zwischen Asexualität und Sexualität, die durch die Bezeichnung gray-asexuell erfasst werden sollen. Asexuelle und Sexuelle können offenbar auf einem Kontinuum der Stärke des sexuellen Verlangens angeordnet werden. Auf dem Gegenpool des gleichen Kontinuums stehen Asexuelle Hypersexuellen gegenüber. Sexuelle befinden sich in der Mitte.

Wann asexuell, gray-asexuell oder sexuell?

Bei jedem quantitativ ausgeprägtem Merkmal ergibt sich die Frage, wo die Grenzen gesetzt werden, um Individuen trotzdem unterschiedlichen Kategorien/Bezeichnungen zuzuweisen?

Wenn alle einen IQ haben, wer ist hochintelligent und wer ist minderbegabt? Wenn wir die Körpergröße in cm messen, wer ist groß und wer ist klein? Wenn wir die mathematische Fertigkeit in Punkten bei der Lösung mathematischer Aufgaben messen, was ist sehr gut, gut, befriedigend, ausreichend oder mangelhaft?

Wenn fließende Übergänge zwischen Asexualität, Gray-Sexualität und Sexualität bestehen, wie kann also entschieden werden, ob jemand asexuell, gray-asexuell oder sexuell ist?

Anstatt nunmehr Personen in zwei Kategorien einzuordnen – asexuell und sexuell – wird mit gray-asexuell eine dritte Kategorie hinzugenommen. Nehmen wir den Gegenpool Hypersexualität hinzu, entsteht bereits eine vierte Kategorie. Sachlogisch müsste dann aber auch wohl eine Zwischenstufe zwischen sexuell und hypersexuell eingeführt werden. So erhöht sich die Kategorienanzahl von 2 (asexuell versus sexuell) auf 5. Dies ist eine für menschliche Klassifikationsprozesse durchaus zu bewerkstelligende Anzahl. Es macht aber die Frage der Zuordnung dennoch ohne klare Definitionsregeln nicht unbedingt einfacher.

Sonderrolle Demisexualität

Die Zuordnung kompliziert sich durch das Konzept der Demisexualität. Demisexualität ist definiert als eine Begrenzung der Auslösbarkeit sexuellen Verlangens durch eine Person, mit der eine emotional tiefgreifende Beziehung besteht.

Demisexualität ist nicht einfach sexuelle Treue. Denn sexuelle Treue bedeutet üblicherweise den bewussten Verzicht auf sexuelle Kontakte zu anderen Personen außer dem Partner/der Partnerin, obwohl grundsätzlich auch andere Personen sexuelles Verlangen auslösen können. Demisexuelle schildern demgegenüber, dass sexuelles Verlangen mit einer anderen Person gar nicht erst entstehen kann.

Demisexualität definiert sich anders als asexuell, gray-asexuell, sexuell oder hypersexuell nicht durch die Stärke des sexuellen Verlangens, sondern durch dessen Auslösungsbedingung. Das sexuelle Verlangen eines Demisexuellen kann also durchaus im Rahmen einer partnerschaftlichen Beziehung stark sein. Demisexualität weist insofern eine Sonderrolle auf und ist nicht dem Bereich der Gray-Asexualität zuzuweisen.

Gray-Asexualität versus Asexualität

Die Einführung von Gray-Asexualität soll der Komplexität menschlichen Erlebens und Verhaltens zur Sexualität gerechter werden. Gleichzeitig soll der Begriff Asexualität erhalten bleiben, es soll also nicht einfach nur von einer Dimension des sexuellen Verlangens mit unendlich vielen Ausprägungsmöglichkeiten gesprochen werden.

Wieso sind sich viele Menschen unsicher, ob sie tatsächlich asexuell seien? Die Antwort liegt wohl darin, dass diese Menschen bei sich einen Unterschied zu ihrer sozialen Umwelt in der Intensität ihres sexuellen Interesses wahrnehmen. Der wahrgenommene Unterschied ist aber oftmals eben nicht so eindeutig, als dass sich sofort eine Selbstbezeichnung als asexuell anbieten würde.

Der Begriff der Gray-Asexualität könnte dieses Zuordnungs-Problem lösen und gleichzeitig den Begriff der Asexualität „schärfen“. Folgender Vorschlag:

  • Diejenigen, die über eine mögliche eigene Asexualität im Zweifel sind und gleichzeitig ein erheblich geringeres sexuelles Verlangen bei sich wahrnehmen als „typische Sexuelle“, sollten sich eher als gray-asexuell bezeichnen.
  • Als asexuell sollten sich diejenigen bezeichnen, die bei sich tatsächlich kein (oder nahezu kein?) sexuelles Verlangen spüren, keine Sexualität mit einem Menschen wünschen und Selbstbefriediguing nicht oder höchstens als einen gelegentlichen, eher mechanisch ablaufenden Prozess praktizieren, der keine echte sexuelle Bedeutsamkeit für sie hat.

Gray-Asexualität häufiger als Asexualität?

Die Stärke sexuellen Verlangens in der Bevölkerung entspricht einer Normalverteilung. Asexualität ist am äußersten Verteilungsende links, Hypersexualität am äußersten Verteilungsende rechts angeordnet. Je weiter sich ein Bereich in einer Normalverteilung vom Durchschnitt entfernt wird, desto weniger Menschen passen in diesen Bereich.

Gray-Asexualität liegt weniger weit vom Durchschnitt entfernt als Asexualität. Es ist daher zu erwarten, dass es mehr gray-asexuelle Menschen als asexuelle Menschen gibt. Diese Erwartung stimmt überein mit der hohen Unsicherheit bei der Selbst-Zuordnung, die wir sowohl in unserem Test „Bin ich asexuell?“ als auch in unserer Umfrage bisher beobachten.

Gray-asexuell in unserem Selbsttest

In unserem Selbsttest wird nach einer weiteren Revision mittlerweile unterschieden zwischen Asexualität, Gray-Asexualität, Demisexualität und weder asexuell, gray-asexuell noch demisexuell ausgerichteter Sexualität. Ebenfalls wird eine Abgrenzung zu folgenden Aspekten vorgenommen, die mit Asexualität und Gray-Asexualität nichts zu tun haben, aber manchmal mit diesen verwechselt werden:

  • Schmerzen bei der Sexualität
  • Orgasmusstörungen
  • Mangel an sexuellem Verlangen
  • Erektionsstörungen (Impotenz)
  • mangelnden Gelegenheiten zu Sexualität
  • sexuellen Hemmungen

Die Bezeichnung gray-asexuell wird Testteilnehmenden dann vorgeschlagen, wenn sich Hinweise auf ein deutliches sexuelles Verlangen ergeben, dieses sexuelle Verlangen aber dennoch erheblich geringer zu sein scheint als „typischerweise“ der Fall, so dass sich die entsprechenden Personen als unterschiedlich zu Sexuellen erleben.

Wir werden bei wachsendem Stichprobenumfang auswerten und darüber berichten, wie gut sich Asexualität und Gray-Asexualität in unserem Selbsttest tatsächlich voneinander differenzieren lassen.

About Author:

Guido F. Gebauer, studierte Psychologie an den Universitäten, Trier, Humboldt Universität zu Berlin und Cambridge (Großbritannien). Promotion an der University of Cambridge zu den Zusammenhängen zwischen unbewusstem Lernen und Intelligenz. Im Anschluss rechtspsychologische Ausbildung, Tätigkeit in der forensischen Psychiatrie und 10-jährige Tätigkeit als Gerichtsgutachter. Gründung der psychologischen Kennenlern-Plattform www.Gleichklang.de 2006. Bloggt u.A. für asexuell.info, Hochsensible.eu, vegan.eu.

5 thoughts on “Gray-asexuell, asexuell oder sexuell?

  1. Nach 65 Jahren ziehe ich bei mir den Schluss, dass es im Leben längere Phasen verschiedener sexueller Empfindungen gab.. So gab es bei mir in meiner Ehe Demisexualität, danach eine Phase stark überzogener sexueller Tätigkeit, dann bisexualität und nach den Wechseljahren das, was ich als asexuelle Phase bezeichne, obwohl Selbstbefriedigung immer noch eine große Rolle spielt. Ekel und Schmerz wird nur beim Sex mit anderen empfunden.

  2. Ich hatte noch nie ein sexuelles Verlangen. Ich mag Zärtlichkeit, kuscheln und küssen aber keinen Sex. Meinen ersten Sex (weil ich es mal ausprobieren wollte und es alle machten) hatte ich mit 26. Es hat lange gedauert, bis es überhaupt funktioniert hat und es war sehr unangenehm. Danach hatte ich jahrelang keinen Sex mehr. Mit 30 Jahren hatte ich dann wieder Sex mit einem guten Freund aber auch das war unangenehm und hat nicht funktioniert. Ich wollte das dann nicht mehr. Mit 37 hatte ich dann einen Freund, mit dem war es anfangs ganz ok aber nach einer Weile wollte ich das auch nicht mehr. Da ich seit meinem 30. Lebensjahr mehrere Bandscheibenvorfälle habe, habe ich auch täglich Verspannungen und mir tut der ganze Körper weh, deshalb habe ich auch kein sexuelles Verlangen. Das klappt bei mir nicht, weil es auch schmerzlich ist. Wenn man körperlich eingeschränkt ist, funktioniert kein Sex. Mein Freund ist auch deshalb fremd gegangen und hat mich nach 8,5 Jahren wegen fehlendem Sex verlassen. Das ist für mich so schlimm, dass ich ab jetzt für immer alleine leben möchte, weil ich keinen Mann mehr will, der Sex will. Ich habe darauf keine Lust mehr, ständig was zu tun, was für mich schmerzhaft und unangenehm ist.

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